Ich glaube es gibt derzeit nur wenige deutsche Rollenspiele, über deren Für & Wider in Foren und der deutschen Blogszene leidenschaftlich diskutiert wird. Klar, um die 5. Version von „Das Schwarze Auge“ und den direkten Konkurrenten „Splittermond“ gibt es einige Debatten, auch mit meiner kleinen Indie-Reihe hab ich ein paar Diskussionen anstoßen können. Ein gerade erst neu auf dem Markt erschienenes SciFi-Rollenspielregelwerk mit immerhin 9 Jahren Entwicklungszeit darf man in dieser Aufzählung aber keinesfalls vergessen: „Ultima Ratio: Im Schatten von MUTTER“ hat unter deutschen Rollenspielbloggern unterschiedlichste Reaktionen hervorgerufen. Grund genug, mir das Basisregelwerk mal genauer anzuschauen! Einleiten möchte ich den Artikel daher gleich mal mit zwei Zitaten:
„[…] ein eher unausgegorenes Regelwerk. […] Selten habe ein Regelwerk in der Hand gehabt, an dem ich so überhaupt nichts Positives finden kann.“ Teilzeithelden.de (Link) „Und da hat man aus wenig sehr viel gemacht und wenn ich mir so anschaue, was man für das nächste Jahr geplant hat, dann sehe ich da was ganz großes am Horizont entstehen. […] Das gesamte Buch ist wirklich ansprechend und sein Geld wert.“ LORP.de (Link)
Über das Grundregelwerk gehen die Meinungen also weit auseinander und so danke ich dem Heinrich Tüffers Verlag, dass er mir mit einem Rezensionsexemplar die Möglichkeit gab mir selbst eine Meinung darüber zu bilden. Fangen wir also mal ganz von vorn bzw. von außen an: Das vollfarbige Basisregelwerk ist ein dünnes, aber stabiles und hochwertig wirkendes DIN-A4-Heft über 40 Seiten. Das sehr stylische Titelbild macht Lust auf mehr, der Informationstext der Rückseite wirkt aber (zumindest für Leser, die nicht mit „Ultima Ratio“ vertraut sind) leicht verwirrend. Einige Sätze sind dabei ziemlich lang und verschachtelt (also noch verschachtelter als meine Textergüsse hier :-P ). Man bekommt immerhin mit, dass es sich wohl um ein SciFi- oder Cyberpunkt-Setting handelt. Und es muss wohl eine ordentliche Portion Dystopie enthalten… OK, ich bin neugierig geworden, also das Regelheft aufgeschlagen und reingelesen! Nach dem Inhaltsverzeichnis folgt eine einseitige Einleitung. Die sollte man möglichst genau lesen, denn bis auf eine überaus nichtssagende Sternenkarte in der Heftmitte, einen einseitigen Völkerüberblick und einigen kurzen Rassebeschreibungen gibt es hier wirklich keinerlei Hintergrundmaterial. In dem Basisregelwerk geht es wirklich einfach nur um das Regelwerk. Das ist natürlich einerseits vollkommen legitim, andererseits ist man so aber genötigt sich weiteres Material wie das „Kolonie-Handbuch Auda“ (Rezension folgt) anzuschaffen. Auch auf der offiziellen Webseite des Spiels finden sich leider kaum brauchbare Informationen. Na gut, finden wir uns also mal damit ab dass man mit dem Basisregelwerk kein vollumfassendes „Ultima Ratio“-Erlebnis bekommt, sondern lediglich die regeltechnischen Grundlagen. Die werden ab Seite 4 dann ausführlich erklärt mit einem Beispielscharakterbogen. Es gibt dort Eintragungen für Attribute, Allgemeine Fertigkeiten, Eigenschaften, Spezieskräfte, Status, Hintergrund, Profession, Rüstung, T.B.A. (Transhumane Bionische Augmentationen), Waffen, Ausrüstung und Reputation. Spätestens dort fällt auf, dass die Stufen in kleinen Dreiecken angegeben sind. Diese stellen die Anzahl der benötigten vierseitigen Würfel (W4) dar. Nun habe ich gelesen, manche Spieler mögen diese Würfel nicht wegen ihrer sehr groben Wahrscheinlichkeitsverteilung von 25 %. Unabhängig davon, dass ich den W4 für den zweitcoolsten Würfel halte (nach dem echten W100), finde ich aber dass man bei höherstufigen Proben mit vielleicht 5 oder 6 Würfeln genügend feinprozentuale Abstufungen hat mit einer hohen Chance, im mittleren Feld zu landen (für die Einschätzung der Probenschwere wichtig, dazu gleich mehr). Dann folgt das Kapitel zum Regelsystem. Hier bezeichnet sich „Ultima Ratio“ selbst gleich zu Beginn als Erzählspiel mit einfachen Regeln. Einspruch! Ich bin ja nun mit erst knapp mehr als einem Jahr Rollenspielerfahrung nicht der absolute Experte, aber unter einem Erzählspiel mit einfachen Regeln verstehe ich persönlich eher Systeme wie „Wushu“ (oder, ich habe es selbst noch nicht gespielt, aber es wird in diesem Zusammenhang immer genannt: „Fate“). „Ultima Ratio“ ist nach meiner Spielerfahrung eher ein „crunchiges“ Rollenspiel mit Formeln und Rechnerei. Das soll aber auch kein Vorwurf sein, ich mag das :-) Aber jetzt mal genug um den heißen Brei geredet, wie funktioniert das Regelsystem denn nun eigentlich? Proben werden mit der jeweiligen, durch die Charaktereigenschaften bestimmten Menge an W4 gewürfelt. Die Ergebnisse werden dann zusammengerechnet – Übertrifft man den Zielwert, hat man die Probe bestanden. Hier gleich wieder ein kleiner Kritikpunkt: Das Regelwerk gibt wenig Anhaltspunkte, wie schwierig man denn eine Probe gestalten sollte. Ist ein Zielwert von 10 für das Hacken eines Computers mit simplem Passwort genug, oder doch lieber 12, 15 oder gar 20? Daneben gibt es noch Kumulative Proben, bei denen man in einem bestimmten Zeitraum einen Zielwert erreichen muss. In manchen Situationen kann man auch gemeinsam zum Erfolg einer Kooperativen Probe beitragen. Fertigkeitsproben werden mit einem Attribut verknüpft, Proben auf Spezialfähigkeiten werden mit Professionsstufe und Attribut verknüpft. Verknüpft bedeutet dabei, dass zu dem erwürfelten Probeergebnis noch der nummerische Wert der Verknüpfungen addiert wird. Bei einfachen Proben auf Attribute und Spezieskräfte wird einfach nur die erforderliche Zahl der Würfel geworfen, bei komplexen Proben auf Spezieskräfte entspricht die Stufe der Kraft de Punkten, die zum Würfelergebnis addiert werden. Die Anzahl der zu werfenden Würfel dagegen wird über die Stufe des Pfades bestimmt. Klingt alles irgendwie ein wenig verwirrend beim Durchlesen? Ging mir genau so! Zwar gibt es einige hilfreiche Beispiele, eine übersichtliche Tabelle hätte hier aber Wunder gewirkt – Ein Königreich für einen Spielleiterschirm (Wink mit dem Zaunpfahl an den Verlag!) ;-) Kämpfe funktionieren ähnlich, jedoch wird hier erstmal jede Runde die Initiative ausgewürfelt. Hiernach beginnt der Kampfteilnehmer mit dem niedrigsten Wert, seine Aktion anzusagen, bis schließlich der Kampfteilnehmer mit dem höchsten Wert an der Reihe ist (und somit auf Geschehnisse reagieren kann, beispielsweise Ausweichen oder Parieren). Handlungen werden dann in umgekehrter Reihenfolge, also vom höchsten zum niedrigsten Initiativwert, abgehandelt. Die Ermittlung der Kampfresultate funktioniert über allerlei Formeln (was dem Konzept eines Erzählspiels entgegensteht – hier hätte es aber im Gegenteil sogar noch etwas taktischer sein dürfen), funktioniert aber prinzipiell ganz gut. Nimmt man dann Schaden, ist von der Höhe der Konstitution abhängig (Konstitution x 20) wie viel man davon einstecken kann bevor man bewusstlos wird. Bei 100 Schadenspunkten ist man dann aber definitiv tot. Zu den Attributen will ich jetzt gar nicht so viel schreiben, das sind die üblichen Verdächtigen (Auffassungsgabe, Ausstrahlung, Geschicklichkeit, Intelligenz, Konstitution, Manipulation, Schnelligkeit, Stärke, Wahrnehmung, Reaktion). Auch die Fertigkeiten sind altbekannt, wobei hier anzumerken ist dass sie sich in die drei Kategorien Körperlich, Sozial und Geistig aufteilen. Spezielfertigkeiten richten sich nach der gewählten Profession. Davon gibt es im Basisregelwerk aber leider nur 6 Stück: Kämpfer und Pilot unter der Kategorie Körperlich, Kaufmann und Ermittler unter Sozial und Mediziner und Ingenieur unter Geistig. Gesteigert werden all diese Attribute und Fertigkeiten durch ein System, welches laut Homepage (Link) folgendermaßen beworben wird:
"Bei Ultima Ratio gibt es weder Erfahrungspunkte noch Level oder Stufen. Charaktere in Spielerhand entwickeln sich über den Verlauf des Spiels durch Anwendung der Spielwerte wie beispielsweise Fertigkeiten – ohne buchhalterischen Aufwand – automatisch weiter. Das W4-Regelwerk beendet damit eine Diskussion, die so alt ist wie das Rollenspiel selbst."
Man kann außerhalb der Abenteuer trainieren, das Kernsystem funktioniert aber folgendermaßen: Wann immer bei einem Wurf alle Würfel eine 4 anzeigen, steigt man automatisch auf. Das geht bei niedriger Würfelanzahl wie 1 oder 2 Würfeln noch relativ fix, generiert sich dann irgendwann aber bis ins statistisch kaum Mögliche… Bei unserem Probespiel ist es - und ich habe als Spielleiter sehr viel würfeln lassen - genau einmal gelungen von 4 auf 5 zu kommen. Das wäre rechnerisch bei jedem 256. Wurf der Fall (falls jemand nicht wie ich sein Mathe-Abitur grad so geschafft hat, bitte nochmal nachrechnen). Nun kann man die Stufen bis auf 10 erhöhen – Wie viel Glück und Ausdauer muss man da wohl haben, sich bis ans Stufenmaximum zu würfeln? Ganz ehrlich, da hab ich lieber eine Diskussion über die Menge der verdienten Erfahrungspunkte… Wirklich cool geworden ist dagegen das Eigenschaftssystem. In den Werten Furchtlosigkeit, Willensstärke und Moral kann man sowohl im positiven als auch im negativen Bereich bis Stufe 10 gelangen. Diese Werte stellen das Verhalten und die innere Überzeugung des Spielcharakters da. Kommt es nun zu kritischen Situationen (in unserem Probespiel etwa, aus einem rationalen Grund auf unbewaffnete Kollegen zu schießen), kann eine fehlgeschlagene Probe dazu führen, dass sich die Figur nach ihrer inneren Überzeugung her verhält, anstatt so wie es der Spieler möchte. Das mag für den Spieler eine Gängelung sein, führt im Endeffekt aber zu charaktertreueren Verhaltensweisen (zu oft habe ich bei „Savage Worlds“ eigentlich ängstliche, pazifistische Charaktere erlebt die sich todesmutig und unklug in aussichtslose Gefechte stürzten – Ja Nadine, falls du das liest, ich meine dich!). Hier kann es auch dann zur namensgebenden Ultima Ratio kommen: Man kann eine Entscheidung erzwingen, indem man dauerhaft eine Stufe ausgibt! Das Basisregelwerk bietet insgesamt 4 Spezies zur Auswahl. Spielerisch unterscheiden sie sich besonders durch die Attributsmaximalgrenzen, durch die Schwächen und durch die verfügbaren Spezieskräfte. Die sind von der Wirkungsweise und dem Spielprinzip her zumeist mit Magie in Fantasy-Settings vergleichbar und werden gleich auf vier Seiten behandelt. Weitere drei Seiten befassen sich dann mit der Charaktererschaffung. Hier wird eine jeweils vorgegebene Anzahl Punkte verteilt. Die geht relativ zügig, wir haben im Testspiel dafür rund eine viertel Stunde benötigt. Kleiner Tipp: Von den verfügbaren Freipunkten sollte man möglichst viel in den Hintergrund stecken, damit erleichtert man sich das Spiel durch einen höheren Kreditstatus und sehr viel Geldvermögen ziemlich ;-) Das Geldvermögen kann man schließlich für allerlei nützliche Ausrüstung, Waffen, Rüstungen und T.B.A. ausgeben. Da sich all das auf nur vier Seiten verteilt, ist die Auswahl aber ein wenig beschränkt. Mir persönlich haben z.B. Granaten gefehlt, was umso ärgerlicher ist da beispielsweise Blendgranaten(-Explosionen) als Effekt bei den Kampfmodifikatoren genannt werden. So, jetzt sind wir eigentlich auch schon durch. Ist irgendwie doch ein ganz schön langer Text für so ein dünnes Heft geworden :-D Bevor nun das Fazit kommt, noch ein paar Worte zu Aussehen und Aufbau des Basisregelwerks. Also erstmal muss ich die Optik loben, die ist zwar eher minimalistisch aber sehr stylisch. Auch die Qualität des Papiers und des Drucks kann überzeugen. Der Aufbau der zweireihigen Text ist prinzipiell gelungen, auch das Lektorat hat gut gearbeitet. Jedoch fehlen ein paar optische Auflockerungen (ich persönlich hätte etwa die Beispiele optisch anders hervorgehoben) und ein Index. Und wie gesagt, für ein zügigeres Spiel ohne Nachblättern fehlt eine Formel-Übersicht! Für so ein kleines Nischensystem scheint mir bei der gebotenen Druckqualität der Preis von 12,95 € jedoch noch angemessen. Jetzt wird es Zeit für mein persönliches Fazit – Und die Frage ist: Tendiere ich eher zu der negativen Teilzeithelden.de-Wertung oder schließe ich mich der positiven LORP.de-Meinung an? Fazit: „Ultima Ratio – Im Schatten von MUTTER“ (Link) ist als reines Regelsystem betrachtet vielleicht ein wenig sperrig geraten, bietet aber einige guten Ideen. Die Regeln funktionieren – wenn man denn kein reinrassiges Erzählspiel erwartet - gut und ein W4-System hat bei mir ja sowieso einen Stein im Brett :-) Das Basisregelwerk krankt aber noch an einigen Fehlern, die den Spielspaß trüben. Ein paar Seiten mehr für einen Index, übersichtliche Tabellen und mehr erklärende Beispiele hätte ich mir beim Lesen auch sehr gewünscht! Aber ich bin jetzt gespannt auf den ersten Erweiterungsband „Kolonie-Handbuch Auda“ und kann mir gut vorstellen, dass ein wenig Fluff-Material meine bisher verhalten-optimistische Meinung noch deutlich zum Positiven ändern kann!