Aug 4: MILAN – Langjährige Spielentwicklung kann gut, aber auch schlecht sein


Ein erfolgreiches Crowdfunding später ist „MILAN“ nun in der gedruckten Version 1.1 seit knapp einem Jahr regulär erhältlich. Maßgeblich aus der Feder stammend von den Schwestern Malissa und Tabitha Urban, spürt man hier auf jeder Seite, dass in über eine Dekade massig Herzblut in das System geflossen ist. Andererseits kann das aber auch eine Warnung sein, denn gelegentlich werden bei langjährigen Herzblutprojekten von den AutorInnen die Scheuklappen aufgesetzt und man entwickelt quasi am Rollenspielmarkt vorbei für die eigene kleine Spielgruppe. Ob das hier auch so ist?

In „MILAN“ verkörpern die SpielerInnen die sogenannten Milane, eine legendäre, aber streng geheime Söldnertruppe. Über mehrere Jahrtausende hinweg (vom Beginn unserer Jahreszählung bis in die ferne Zukunft) können finanzkräftige AuftraggeberInnen sie anwerben, damit sie das Weltgeschehen ordentlich durcheinander wirbeln – Oder, wie es bei Alternativgeschichtssettings üblich ist, vielleicht genau dafür sorgen, dass ein bedeutendes Geschichtsereignis eintritt. So erfolgreich sind sie dabei einerseits, weil sie mittlerweile komplex organisiert sind (es gibt nicht nur acht verschiedene Fraktionen, sondern auch z.B. einen Verwaltungsapparat und eine Art interne Gerichtsbarkeit inklusive Exekutionskommandos), und andererseits, weil sie sehr viel besser und stärker als normale Menschen sind. Und zu allem Überfluss können sie auch noch zaubern, sodass man in „MILAN“ quasi SuperheldInnenen oder berufsbedingt eher AntiheldInnen spielt.

Doch vor dem Start ins Abenteuer folgt natürlich erst einmal die Charaktererschaffung. Die ist im „echten“ Leben (also OT am Spieltisch) zwar nicht so schmerzhaft wie innerhalb des Settings (das erinnert nämlich eher an irgendwelchen Bodyhorror), aber den Kopf zerbrechen muss man sich dann doch



Die eigentlichen Spielregeln sind dafür recht einfach gehalten, im Prinzip muss man nur gleich oder unter dem Attributswert würfeln. Milane machen das mit einem W20, Menschen dagegen mit einem schnöden W6. Aber natürlich gibt es auch allerlei Sonderregeln & Modifikatoren, die sich dann teils auch noch hinter irgendwelchen Rechenformeln verstecken, aber theoretisch passen die grundlegenden Spielmechanismen auf eine DIN-A4-Seite (so geschehen auf Seite 165, also mitten im Buch, was trotz Lesebändchen eher ungünstig platziert ist). Wobei man hier doch merkt, dass das System ein paar Jahre auf dem Buckel hat, denn viele Regelmechanismen hätte man sicher eleganter lösen können. Und damit meine ich eben nicht nur die Rechenformeln (da hab ich woanders schon viel schlimmere Sachen gefunden


Sehr gelungen ist die Ausarbeitung der Milan-Organisation. Allein die Fraktionsvorstellung umfasst gut 60 Seiten, dazu kommen für die einzelnen Hierarchieebenen, Berufsbilder, Verwaltungsstrukturen und etwas Geschichte nochmal um die 40 Seiten. Dazu addieren sich noch gut zwei Dutzend Seiten mit den Regeln, sodass man sich recht einfach zusammenreimen kann, dass dann bei einem 184 Seiten starken Regelbuch nicht mehr viel Platz übrig bleibt für den Rest, den man zum Spielen braucht. Gerade weil hier eine so große Zeitspanne abdeckt, hätte ich mir viel mehr Informationen zu möglichen NSCs & Feinden, zu möglichen Story-Ideen und generell zu den Epochen gewünscht. Okay, bei Vergangenheitssettings geht auch ein handelsübliches Geschichtsbuch, aber man muss ja auch mal an so unkreative Spielleitungen wie mich denken

Ich wage jetzt mal die steile These, dass das durchaus von den Entwicklungsscheuklappen kommt, denn wenn man über eine Dekade an so einer Spielwelt arbeitet, dann weiß man ja natürlich ganz genau, wie das Setting aussieht und wie man es der Spielgruppe präsentieren muss. Nur ich als Rezensent weiß das halt nicht



Fazit: „MILAN“ (Link) ist ein sehr solides Powergaming-Rollenspiel und man merkt durchaus den langen Entwicklungszeitraum – In positiver wie in negativer Hinsicht. Da aber im Endeffekt die positiven Aspekte überwiegen, bin ich sehr neugierig darauf, mal eines der offiziellen Abenteuer zu spielen – Ob da die Informationslücken aufgefüllt werden?
Posted by Philipp Lohmann
in Rollenspiel