Oct 24: Harlem – Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit



„Harlem“ erzählt eine Unterwelt-Geschichte im New York der frühen 30er Jahre. Die große Depression hat das Land immer noch erfasst, aber besonders hart getroffen hat es naturgemäß die Schwächsten der Schwachen, nämlich die BPoC-Bevölkerung des Stadtteils Harlem. Bei 50 % Arbeitslosigkeit und weiter konstantem Zuzug der armen Landbevölkerung ist die einzige Hoffnung die lokale Untergrund-Lotterie, welche Reichtum über Nacht verspricht. Wie alle Glücksspiele profitieren am Ende aber die Organisatoren – Oder in diesem Fall die Organisatorin! Stéphanie St. Clair, besser bekannt als Queenie, hat als knallharte Anführerin von Harlems Glücksspiel-Mafia die Fäden in der Hand. Die Konkurrenz, aber auch die Polizei, muss sie dabei kaum fürchten. Denn da sie viele ihrer Gewinne zurück ins Viertel investiert, steht die lokale Bevölkerung hinter ihr. Doch die Zeiten ändern sich, denn während Queenie den Status Quo um jeden Preis beibehalten will, bilden gegnerische Clans, die Obrigkeit und selbst ihre engsten Verbündeten unheilvolle Allianzen. Und zu allem Überfluss holt sie sich auch noch ihren ärgsten Feind ins Haus, denn der aufstrebende Lokalreporter Robert Bishop soll eigentlich nur ihre aufrührerischen Zeitungskolumnen lektorieren. Stattdessen schreibt er jedoch eine Biografie, welche ihren Feinden genug Munition für den entscheidenden Gegenschlag liefern...

„Harlem“ steht wie alle Gangster-Geschichte vor dem Dilemma, dass man einerseits natürlich Sympathien für die Hauptfiguren aufbringen muss, damit man mit ihnen mitfiebert. Andererseits handelt es sich dabei aber um skrupellose Kriminelle, die ja prinzipiell höchst unsympathisch ist – Queenie mag noch so viel in ihre BpoC-Community investieren, am Ende hat sie immer ein Messer in der Tasche und einen riesigen Schlägertyp an der Seite, um unliebsame Mitmenschen anzugreifen... Und doch kommt man in „Harlem“ nicht umhin, diese höchst ambivalent Figur mit einer fast schon morbiden Faszination bei ihrem Untergang zu betrachten. Der Autor & Künstler Mikaël schafft es mit Leichtigkeit, dass es den Lesenden ebenso geht wie dem Jungreporter Bishop, der Queenie für einen Leuchtturm der afroamerikanisch-feministischen Selbstermächtigung hält. Und schnell kommt man da ins Relativeren, denn eigentlich ist illegales Glücksspiel ja auch gar nicht so schlimm wie der Drogenhandel und der Alkoholschmuggel der anderen Mafia-Clans, also kann man Queenie ja doch bewundern. Oder doch nicht? Mikaël schafft immer wieder den Spagat, dass man im letzten Moment zur Besinnung kommt, wenn man schon die ersten Queenie-Chearleader-Sprechchöre anstimmen will


Also ein wirklich toller, insgesamt 128 Seiten dicker „Splitter Double“-Band, der neben einer spannenden Gangster-Geschichte mit ambivalenten Charakteren auch wundervoll atmosphärische Zeichnungen bietet. Man spürt quasi das Feeling des Harlems der 30er Jahre! Also ist es auch kein Wunder, dass der „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) meine ganzen „Splitter Double“-Spöttereien ignorierte und diesen tollen Comic ins Programm nahm. Eine gute Entscheidung, denn von mir gibt es ein überaus positives...
Fazit: „Harlem“ (Link) erzählt eine unglaublich atmosphärische Gangster-Geschichte über eine für ihre Zeit fortschrittliche Frau, die scheitert, weil sie den Fortschritt aufhalten will. Überaus empfehlenswert!
Posted by Philipp Lohmann
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