Jul 31: Shadowrun Anarchy – Weniger Würfel, weniger Waffen, mehr Gelaber




Über das hinlänglich bekannte Setting muss ich (ähnlich wie das Regelbuch) gar nicht viel schreiben, daher nur die Zusammenfassung in zwei Sätzen: In der gar nicht mehr allzu fernen, ziemlich dystopischen Zukunft ist das sechste Zeitalter angebrochen und die Magie erstarkt. Die Spieler müssen in dieser von unwirtlichen, von Fantasy-Rassen bevölkerten Cyberpunk-Welt überleben, indem sie als Runner (Söldner, Einbrecher, Entführer etc.) überaus zwielichtige Jobs für überaus zwielichtige Auftraggeber (meist Großkonzerne) annehmen, bei denen letztendlich immer zahlreiche Bleikugeln und Zaubersprüche rumfliegen



Am Anfang wirkt der Spielaufbau noch recht klassisch: Die Spieler wählen beziehungsweise erschaffen ihre Charaktere, der Spielleiter denkt sich einen Auftrag aus. Doch schon dann wird es ungewöhnlich: Anstatt dass der Spielleiter nun gottgleich das Szenario mit all seinen Figuren und Eigenheiten beherrscht, dürfen die Spieler selbst ran. Hierzu beschreibt der Spielleiter erst die Ausgangssituation, dann geht das Erzählrecht im Uhrzeigersinn an die Spieler reihum weiter. Diese dürfen nun ihre Charaktere ganz klassisch mit der vorhandenen, vom Spielleiter erschaffenen Szenario interagieren lassen (z.B. mit einen NSC sprechen). Sie können aber auch dem Szenario beispielsweise neue Figuren hinzufügen (“Drei Wachsoldaten kommen um die Ecke!“) oder auch die Umgebung beeinflussen (“Ein Blitz trifft das Gebäude und der Fahrstuhl bleibt stecken!“) – Alles ist erlaubt, solange es die Handlung voran trägt und den Spielern mehr Freude bringt. Normalerweise geht das Erzählrecht dann an den nächsten Spieler weiter, wenn eine Probe gewürfelt wurde. Es gibt aber zwei Ausnahmen: Erstens kann sich ein anderer Spieler durch das Ausgeben eines Plotpunktes (welche man für gutes Rollenspiel erhält und mit denen man auch beispielsweise Proben vereinfachen kann) das Erzählrecht „erkaufen“, zweitens kann freie Redezeit deklariert werden. Bei dieser dürfen alle durcheinander reden beziehungsweise ein „natürliches“ Gespräch führen, etwa wenn sie einen Zeugen befragen oder mit ihrem Auftraggeber verhandeln. Wenn es dann zu einer Probe kommt, wird ganz klassisch ein W6-Würfelpool gebildet. Bei diesem gelten alle 5er und 6er als Erfolg (gibt man den Edge-Bonus aus, auch alle 4er). So ein Würfelpool ist nun wesentlich kleiner als beim klassischen „großen Bruder“, aber eine Dutzend W6 können es dann doch mal sein. Denn er setzt sich zusammen aus: Fertigkeitswürfel + Attributswürfel + eventuelle Modifikatoren + eventuelle Schattenbooster & Waffenboni. Das Ergebnis vergleicht man dann mit dem Resultat des Würfelpools der Gegenseite. Letztendlich ist es also doch schon ein wenig Rechnerei, was prinzipiell nicht schlimm ist, aber doch eine kleine Umgewöhnung für Erzählspiel-Fans darstellt. Zudem kann man solche Proben mit dem Schicksalswürfel noch ein wenig spannender gestalten: Diesen wirft man auf Wunsch oder durch die Vorgabe des Spielleiters zusätzlich, um dann Patzer und Glücksfälle, also gute oder schlechte storyrelevante Nebeneffekte, zu erzeugen. Also doch schon ein paar Regeln, doch kommt man in diese dank der gut lesbaren, aber manchmal arg wage vormulierten Texte gut hinein - Besonders wenn man sie stur von vorn nach hinten liest. Sucht man aber gezielt nach einer einzelnen Regelpassage, muss man manchmal trotz Index kurz suchen.
Bevor man sich aber in die zwielichtige Welt der Konzernkriege stürzt, sollte man sich erst einmal einen Charakter zusammenbasteln. Auch das ist, für ein Erzählspiel, recht komplex:
1. Zu Beginn wählt man einen Namen und eine Rolle. Hier ermuntert das Regelbuch zur Erschaffung einer heterogenen Spielgruppe (erfahrungsgemäß die beste Idee, um in der sechsten Welt zu überleben)
2. Dann wählt man das Spielniveau (Straßenrunner/Erfahrener Runner/Top-Runner), was sich auf die Zahl der Attributspunkte (12/16/20), die Fertigkeitspunkte (10/12/14) und die Schattenbooster-Punkte (6/10/14) sowie auf die Art und Anzahl der Waffen (1/2/3), der Ausrüstungsgegenstände (3/4/5) und der Connections (1/2/3) auswirkt.
3. Nun wählt man den Meta-Typ (Mensch, Elf, Zwerg, Ork, Troll) aus, wobei jede Rasse natürlich eigene Boni und teils Mali hat.
4. Möglicherweise ist ein Charakter auch erwacht oder digital erwacht?
5. Dann werden die die Attributspunkte für Stärke, Geschicklichkeit, Willenskraft, Logik und Charisma ausgegeben, wobei rassenspezifische Maximalwerte zu beachten sind.
6. Nun folgt die Vergabe der Fertigkeitspunkte auf die aus der Fertigkeitsliste gewählten, maximal fünf Fertigkeiten.
7. Anschließend fügt man Schattenbooster, unterteilt in fünf Schritte, hinzu (1. Festlegung der Grundkosten, 2. Festlegung der Zusatzeffekte, 3. Auswirkung der Essenz, 4. Notieren der Boosterstufe, 5. Umwandlung der übrigen Punkte in Edge)
8. Jeder Charakter bekommt zwei Vor- und einen Nachteil.
9. In so einer gefährlichen Welt muss man sich natürlich eine gute Panzerung auswählen.
10. Jetzt kommt wohl die Lieblingsbeschäftigung aller Shadowrunner: Die Auswahl der Waffen. Immerhin 20 Stück stehen zur Auswahl.
11. Dazu kommt noch etwas Ausrüstung. Und Connections schaden auch nie
12. Dann notiert man noch ein paar coole Zitate...
13. ...und eine Hintergrundgeschichte.
14. Noch ein paar letzte Anpassungen, dann kann es auch schon losgehen!
Natürlich kann man solch einen Charakter auch weiterentwickeln. Dazu benötigt man Karma, welches Erfahrungspunkte und Geld ersetzt. Daher, auch die Auftraggeber bezahlen in Karma statt in Nyuen, was anfangs schon ein wenig gewöhnungsbedürftig und wenig immersiv ist. Damit kann man dann ganz klassisch Attribute, Fähigkeiten, Schattenbooster, Ausrüstung/Waffen/Panzerung und Connections steigern bzw. verbessern, aber auch Nachteile entfernen und neues Zeugs kaufen. Letztendlich kann man sich das alles aber auch sparen und einfach mal mit den 30 vorgefertigten Charakteren (je eine Seite Charakterbogen und eine Seite Hintergrundgeschichte) loslegen


Abgerundet wird das Buch noch mit Konvertierungshilfen von und zur fünften Edition von „Shadowrun“, zudem finden sich ein Index und eine Slang-Übersetzung. Die allgemeinen Qualität (Artwork, Layout, Lektorat, Druck) und das Preis/Leistungsverhältnis sind mal wieder toll, wie man es halt von „Pegasus Spiele“ (welche mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben) gewohnt ist. 19,95 € für ein vollfarbiges, 240 Seiten starkes Hardcover sind ein echter Schnapper


Fazit: Vorneweg, es fühlt sich wirklich noch wie „Shadowrun“ an, nur mit weniger Waffen- & Würfel-Fetischismus


PS: So richtig als leichtgängiges Erzählspiel würde ich es vom Komplexitätsgrad her gar nicht einordnen wollen, es ist vom Regelniveau eher „normal“ und gut vergleichbar mit den FFG-“Star Wars“-Rollenspielen und „Space 1889“.