Bekanntermaßen bin ich ja jemand, der sich bei Spielen aller Art weniger für die Spielwelt oder die Hintergrundgeschichte interessiert, sondern vielmehr für gute Regeln und spaßige (Kurz-)Abenteuer. Wenn ich bei einem Rollenspiel also gut 300 Seiten reine Welt- & Fraktionsbeschreibungen regelrecht verschlinge, dann ist das schon mal ein ziemlich gutes Zeichen 😉
 

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„King Racoon Games“ (die mir, das sei vorneweg erwähnt, dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellten) ist eine von diesen deutschen Spielefirmen, an die man erst beim zweiten oder dritten Mal denkt, weil sie doch recht klein und unscheinbar sind. Schaut man sich aber auf Fachportalen wie BGG um (nahezu alle Spiele zwischen 7 – 9 von 10 Punkten) oder recherchiert man die Crowdfunding-Erfolge (teils deutlich mit 300+ % überfinanziert), dann ist man durchaus beeindruckt, was für qualitativ gute und finanziell erfolgreiche Titel aus Ludwigsburg kommen. Nach der Lektüre des Rollenspiel-Grundregelwerks „After the Moonfall“ kann ich das auch ziemlich gut nachvollziehen, denn der 448 Seiten dicke, ziemlich schwere Hardcover-Brocken erfreut mit phantastischen Zeichnungen und einer äußerst kreativen Spielwelt.
 

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Aber von vorn, worum geht es eigentlich? Götter sind real, aber die Menschheit hat sich ein Beispiel am Philosophen Friedrich Nietzsche genommen, denn tot sind sie viel besser als lebendig 😉 Als dem letzten verbliebenen Gott Tsukuyumi, einen auf den Mond verbannten Drachen, der Garaus gemacht werden soll, passiert das große Unglück: Tsukuyumi fällt mitsamt des Mondes auf die Erde, weil ihn die Drachentöter-Lanze angepiekst hat und somit einen Teil seiner Kräfte nahm. Dies führt zu einer Apokalypse, aus der dank der Drachenphäromone nicht nur gruselige Monster (die Oni) entstanden, sondern auch phantastische neue Fantasy-Völker. Humanoide Wildschweine, riesige Land-Wale, hyperkapitalistische Ratten, zeitreisende Affen und natürlich alle möglichen Spielarten an überlebenden Menschen (vom blutrünstigen Horror-Clown bis zum Cyber-Samurai) sind nur einige wenige Beispiele an den zahllosen knallbunten Völkern, die jetzt die Erde beherrschen. Oder zumindest versuchen sie zu beherrschen, denn die allgegenwärtigen Omi und vor allem aber die für Recht & Ordnung kämpfenden Sentinels (quasi kleine „Judge Dredd“-Grüppchen als verschiedensten Völkern, die alle für eine bessere Welt arbeiten) machen ihnen da gern mal einen Strich durch die Rechnung... Wie schon oben in der Einleitung geschrieben, gut zwei Drittel des Grundregelwerks bestehen aus Welt- & Fraktionsbeschreibungen. Und die liest sich, auch durch die zahlreichen Zeichnungen und die einfach stimmig wirkenden Beschreibungen, überaus flott weg. Selbst einem Kreativitätsverweigerer wie mir kamen schon nach wenigen Seiten die ersten Ideen, was für Abenteuer man hier alles erleben könnte. Mich so schnell zu begeistern schaffen sehr wenige Grundregelwerke, also schon mal einen dicken Daumen dafür 🙂
 

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Da zwei Drittel des Buchen für Weltenbau verwendet werden, bleiben entsprechend nur ein Drittel für Regeln übrig. Und selbst das täuscht, denn die erzählerisch angelegten Spielmechaniken umfassen tatsächlich nur wenige Seiten. Mehr braucht man aber auch nicht, denn „After the Moonfall“ arbeitet mit recht einfach strukturierten 2W6-Proben. Die Spielleitung gibt sogenannte Meilensteine vor (also quasi Erfolge, die man abarbeiten muss), dann würfeln die Spielenden mit 2W6 plus eventuelle Vorteilswürfel. Insgesamt kann man so maximal sieben (2 reguläre plus 5 zusätzliche Würfel) beziehungsweise zehn (drei zusätzliche Risikowürfel, die bei einem Fehlschlag negative Konsequenzen bringen) Würfel nutzen, deren zwei niedrigste Ergebnisse zusammengezählt werden. Je niedriger dann das Wurfresultat, umso mehr Stile (sozusagen Sonderfähigkeiten/-eigenschaften) kann man verwenden, um einen Meilenstein zu überwinden. Will beziehungsweise kann man das nicht, sind auch sogenannte Cliffhanger möglich, welche die Handlung (oft in eine für die Spielenden eher unpassende Richtung) weitertreiben. 
 

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Insgesamt umfassen die Regeln gerade mal zwei Dutzend Seiten. Als Nicht-Erzählspieler habe ich mich mit ihnen Anfangs etwas schwer getan, aber dank der vielen Spielbeispiele und der hilfreichen Erklärung einer erfahrenen Mitspielerin hab ich mich dann doch recht zügig in das ungewohnte System hineingefuchst. Auch die Charaktererschaffung geht recht zügig, sobald man sich das knapp über 40 Seiten lange Kapitel mal komplett durchgelesen hat. Hier liegt die „Schwierigkeit“ weniger in der eigentlichen Erschaffung als vielmehr in der Entwicklung eines Figurenkonzepts, denn die Spielwelt ist so ungemein vielfältig. Dazu dann noch 20 Seiten mit Ausrüstung, Fahrzeugen und Begleitungen durcharbeiten, schon kann man loslegen. Es gibt ein „richtiges“ Kurz-Einstiegsabenteuer und zahlreiche Inspirationen – Wie schon oben erwähnt, wenn selbst ich beim Lesen der Welt-/Fraktionsbeschreibungen von ganz alleine auf Ideen komme, dann hat der Autor & Zeichner Felix Mertikat enorm viel richtig gemacht!
 

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Und ich muss zugeben, ich weiß gar nicht so richtig, was ich hier jetzt eigentlich kritisieren soll. Das ist einfach ein phantastisches Rollenspiel-Grundregelwerk, welches mit seinen zahlreichen Illustrationen einen so hohen Maßstab setzt, dass selbst zahlreiche Konkurrenzprodukte aus deutlich bekannteren Verlagen dagegen abstinken. Klar, es gibt den ein oder anderen Schreibfehler, und die Struktur der Texte hätte man noch etwas verfeinern können – Aber das sind winzige Kritikpünktchen an einem phantastischen Meisterwerk. Ich bin also ganz offensichtlich ausgesprochen begeistert, deshalb gibt es auch ein überschwängliches...

Fazit: Selten hat mich ein Rollenspiel aus dem Stand weg so sehr begeistert wie „After the Moonfall“ (Link). Super kreativ, super hübsch, super erzählerisch! Für mich das erste Rollenspiel-Highlight des jungen Jahres!