Comics mit Mafia-Bezug gibt es immer mal wieder, wobei von den Kreativen aber mangels Kenntnissen der Materie gern auch auf Stereotype zurückgegriffen wird. Bei „Nicolino“ liegt der Fall jedoch ein wenig anders, denn als echter Süditaliener stammt der Zeichner & Autor Stefano Orsetti aus einer der Hochburgen der organisierten Kriminalität, in der die ’Ndrangheta das Sagen hat. Und diese hat ihre Finger nicht nur im Drogenhandel, sondern auch im Bereich Landwirtschaft & Lebensmittel. Und genau darum geht es dann auch in diesem 60 Seiten starken Comicband, der laut Untertitel die komplette Saga vom Anti-Mafia-Schüler Nicolino erzählt.
Der kleine Nicolino ist quasi die Blume auf dem Misthaufen, denn er geht in der schlechtesten Bildungseinrichtung des Landes zur Schule, welche von der Mafia unterwandert wurde. Die Lehrkräfte haben Angst oder sind sogar korrumpiert, während Nicolinos Altersgenossen dem Konsum von süchtig machender 'Nduja (scharfer Streichsalami aus Kalabrien) frönen. Aber Nicolino, gesegnet mit einem messerscharfen Verstand und einem idealistischen moralischen Kompass, hat dem Schulableger der Mafia den Kampf angesagt! Und tatsächlich, dank aufopferungsvoller Recherche gelingt es ihm, eine Großrazzia zu veranlassen... Doch die Mafia vergisst nicht, sodass Nicolino erst ins sicherere Dänemark emigrieren muss (ebenso wie Autor & Zeichner Stefano Orsetti), nur um dort dann trotzdem von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden.
Gleich vorweg: „Nicolino“ ist ein toller Comic. Aufgeteilt in drei Kapitel, wird hier der Kampf der verschiedenen Haupt- & Nebenfiguren (neben Nicolino auch sein Love-Interest Rosina und der Mafia-Jungspund Tanino) sowohl als Kinder als auch gut ein Jahrzehnt später als junge Erwachsene gezeigt. Das ist spannend, das ist hübsch gezeichnet, das ist einfach gute Unterhaltung! Und doch war ich nach der erstmaligen Lektüre etwas irritiert, denn sowohl das fast schon niedliche Titelbild als auch das Auftaktkapitel vermitteln eine ganz andere Geschichte, als man sie am Ende bekommt. Denn zu Beginn wirkt das alles ein wenig parodistisch, mit dem Mafia-Kindern in der Schule, die Streichsalami verticken. Und einem 'Nduja-Koch, der mehr als eindeutig an Walter White aus „Breaking Bad“ angelehnt ist. Dazu ist Nicolinos Charakter arg überzeichnet, der könnte so auch aus einem 80er-Jahre Hard Boiled B-Movie kommen. Aber dann kippt die locker-leichte Stimmung, da die Mafia mit immer tödlicheren Anschlägen (von durchgeschnittenen Bremsleitungen über einen Bombenanschlag bis hin zu Erschießungen) reagiert. Plötzlich findet sich der knuffig-nerdige Protagonist in einem echten Mafia-Thriller wieder, bei dem nicht nur er selbst im Fadenkreuz steht – Das ist konsequent und dem ernsten Thema vermutlich mehr als angemessen, im ersten Moment empfand ich diese uneinheitliche Stimmung jedoch als einen deutlichen Kritikpunkt. Aber eben auch als den einzigen großen Kritikpunkt! Denn die „Edition Faust“ (die mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) hat hier einen rundum gelungenen Krimi-Comic herausgebracht, bei dem man sich lediglich vorab bewusst sein sollte, dass es eben kein „TKKG in Süditalien“ ist, sondern tatsächlich ein düster-brutaler Mafia-Kurzkrimi, bei dem die Hauptfiguren in der ersten beiden der drei Kapitel halt knuffige Kinder sind.
Fazit: „Nicolino: Die komplette Saga“ (Link) wirkt zu Beginn wie eine klischeehafte Parodie, ist dann aber doch ein knallharter Mafia-Comic. Und zwar ein wirklich guter!