Und erneut muss ich mich wiederholen: „Die Klabauter Chroniken“ (Link), also die dreiteilige Solo-Spielbuch-Reihe von Barbara & Tobias Riedel, gehört für mich zu den großen Rollenspiel-Überraschungen der letzten Jahre! Aber wir wissen alle, dass ich vom Piraten-Thema ja prinzipiell wenig halte, vom SciFi-Thema dafür umso mehr... Und dann lag da überraschend eine SciFi-Spielbuch von dem Autoren-Ehepaar im Briefkasten! Ich war natürlich ziemlich gehyped. Und vor allem war ich unglaublich gespannt, gibt es in dieser Genre-Nische doch eher wenige Spielbuch-Vertreter. Außer dem grandiosen „Verax: Das Experiment“ (Link), bis zum heutigen Tag der Gold-Standard für SciFi-Spielbücher, fällt mir da gerade kein Konkurrenzprodukt ein. Haben wir hier also vielleicht den Thronfolger?
Die in drei Akte unterteilte und auf 544 Seiten ausgebreitete Handlung beginnt dabei recht klassisch. Ohne große Erinnerungen erwacht man in den tiefsten Tiefen einer abgeranzten Cyberpunk-Metropole. Das Ziel ist recht simpel: Flucht! Und das gelingt dank eines zwielichtigen Auftrages auch. Wobei man im zweiten Akt gleich nochmal und sogar mehrfach flieht, nachdem man die Cyborg-Dame Lyra sowie deren Raumschiff „Hyperion“ mitsamt dem knurrigen Piloten Cage kennengelernt hat. Ohne jetzt groß zu spoilern (was, selbst wenn, dank eines gelungenen Story-Twists eh egal ist), im weiten Verlauf der Geschichte wird man mit besonders widerstandsfähigen Aliens konfrontiert, denen man im finalen Akt dann den Garaus machen soll.
Zugegeben, diese Story-Zusammenfassung ist jetzt sehr kurz und grob gehalten, aber tatsächlich ist die Geschichte nicht sehr tiefgängig. Man merkt zwar, dass hier ein gewisser Weltenbau im Hintergrund vorhanden ist, davon bekommt man aber in diesem Band nur genau so viel mit, wie es für den Fortgang der Handlung notwendig ist. Schade! Aber um erzählerische Komplexität geht es hier auch gar nicht, sondern um die verschiedenen Wege, die zu einem der verschiedenen Enden führen. Innerhalb der einzelnen Akte bieten die Riedels nämlich durchaus spielerische Freiheiten. Zwar kann man oft nur zwischen einem konfrontativen und einem umsichtigen Vorgehen wählen (und manchmal als dritte Option den Einsatz eines zuvor irgendwo erworbenen/gefundenen Gegenstandes), aber um alle Story-Schlenker zu erleben, muss man mindestens zwei, eher sogar drei Durchläufe einplanen. Das frühe Highlight ist dabei ein fast schon an „Shadowrun“ etc. erinnernder Attentatsauftrag, bei dem zwischen einmal quer durchs Lokal metzeln oder einem diplomatischen Seitenwechsel eine überraschend große Menge an Möglichkeiten besteht.
Spielerisch ist das Spielbuch dabei recht simpel gehalten. Das grundlegende Prinzip unterscheidet sich nicht von der Konkurrenz, denn auch hier darf man am Ende vieler der 333 Abschnitte wählen, welche Handlung man ausführt. Diese Handlung verweist dann zu einem anderen Abschnitt, wo man dann weiterlesen muss. Ganz klassisch, hier gibt es keine großen Schnörkel. Kommt es zu einem Kampf, unterwürfelt man mit einem W20 den Angriffswert, wobei man diesen bei Bedarf auch auf seine zwei Hände aufteilen kann. Dann ist der Zielwert zwar niedriger, aber man hat zwei Versuche, was ich für eine nette Idee halte. Hat man dann jedenfalls getroffen, kann ein Treffer ebenfalls mit einer W20-Unterwürfeln-Probe abgewehrt werden. Geht er aber durch, wird der Schaden ermittelt, welcher von den Lebenspunkten (minus Rüstungsschutz) abgezogen wird. Das ist gar nicht schwer, aber für meinen Geschmack ein wenig zu viel Würfelei. Und es ist alles ein wenig zu zufällig. Wenn ein Lasergewehr zwischen 3 und 18 Schadenspunkte verteilt, dann kann ein gute Schadenswurf mitunter einen Instant-Kill verursachen; mehrere schlechte Schadenswürfe dagegen können im Zweifelsfall dafür sorgen, dass man schneller als der/die Gegner bei 0 Lebenspunkten landet, obwohl man immer in jeder Runde einen Treffer erzielt.
Wobei man diesen 0 Lebenspunkten bei der rudimentären Charaktererstellung recht schnell nahe kommen kann. Denn da die drei Spielwerte Leben, Angriff und Verteidigung ausgewürfelt werden, kann man im Extremfall einen Premium-Charakter mit 20 Leben, 18 Angriff und 13 Verteidigung haben oder einen Mega-Lusche mit 10 Leben, 8 Angriff und 8 Verteidigung... Dieses glücksabhängige Regelsystem finde ich nicht ganz durchdacht, hier würde ich mir für weitere Spielbücher (die hoffentlich kommen, das Universum hat Potential) nochmal eine Überarbeitung wünschen. Das ist dann aber auch schon der einzige große Kritikpunkt, denn ansonsten ist „Star Raider: Hyperion Prime“ erneut dafür, dass es ein kleines Indie-Projekt ist, wirklich gut gelungen. Sicherlich hätte man, auch wenn sich die Texte flott weglesen, nochmal am Lektorat & Korrektorat feilen können. Und ganz persönlich mag ich keine KI-Kunst. Aber wie gesagt, für ein kleines Indie-Projekt ist das wirklich gut gelungen!
Fazit: Barbara & Tobias Riedel haben den Sprung von den Weltmeere-Piraten hin zu den Weltraum-Piraten ziemlich gut gemeistert! Sicherlich hat „Star Raider: Hyperion Prime“ noch ein paar Kinderkrankheiten, aber hier steckt wahnsinnig viel Potential drin. Um „Verax“ vom Thron zu stoßen reicht es also noch nicht, aber es ist doch das beste Solo-Spielbuch, welches ich in diesem Jahr bisher gespielt habe.