Spielbücher lassen einsame Heldenfiguren stupide von A nach B laufen, damit sie am Ende den Oberbösewicht besiegen oder auf den Weg dorthin vielfach sterben? Das war einmal. Gerade der deutsche Spielbuch-Spezialist „Mantikore Verlag“ hat mit einer ganzen Reihe an jungen, wilden Autoren (z.B. meinen Podcast-Partner Jörg Benne (Link) oder auch den legendären Swen Harder) mehrfach bewiesen, wie breitgefächert man das Medium Solo-Spielbuch bespielen kann (man verzeihe mir den dummen Wortwitz). Nun ist der Horror-Autor Mario H. Steinmetz nicht mehr ganz so jung, aber immer noch ziemlich wild (so wild, dass sich meine Exfreundin bei einer seiner Horror-Lesungen fast übergeben hat!), weshalb ich sehr gespannt auf sein mittlerweile bereits zweites Solo-Spielbuch war. Denn ein Fantasy-Krimi im spätviktorianischen London rund um den berühmtesten aller Serienmörder Jack the Ripper? Klingt vielversprechend!
Zu Jack the Ripper an sich muss ich hier sicherlich nichts schreiben, dazu ist er viel zu legendär. Allein schon deshalb, weil es der erste Serienmörder war, der einen weltweiten Medienrummel auslöste und so auch heute noch in zahlreichen Popkultur-Adaptionen vertreten ist. Das beste Beispiel liegt hier genau vor uns, in Form dieses 640 Seiten dicken Solo-Spielbuches. Über 740 Abschnitte hinweg geht man hier auf Mörderjagd, entweder als der dienstbeflissene Inspektor Frederick G. Abberline oder als die viel zu neugierige Näherin Ada Wilson. Dabei verläuft der in fünf Kapitel aufgeteilte Handlungsbogen jeweils ähnlich, man bekommt aber durchaus andere Eindrücke. Logisch, bei einem Repräsentanten von Scottland Yard verhalten sich die Leute ganz anders als bei einer herumschnüffelnden Frau. Der Wiederspielwert ist also definitiv gegeben, allein deshalb, weil man zwischendurch öfters mal zu Tode kommen kann.
Denn „1888: Wer ist Jack the Ripper?“ bleibt zwar der grundlegenden Spielmechanik des Abschnitt-Hoppings treu, also man kann sich oft für zwei oder mehrere Möglichkeiten entscheiden, die zu anderen Abschnitten führen. Aber es bereichert dieses Konzept mit einem einfachen, aber effektiven Charakterkonzept, bei dem man eine gewisse Anzahl von Skillpunkten auf die Fähigkeiten Geschick, Auftreten, Überzeugen, Freunde, Glaubwürdigkeit, Empathie, Nahkampf, Schießen und Überwältigen verteilt. Die zu verteilende Menge hängt dabei vom eigenen Geburtsdatum ab, was mir persönlich einen eher schwachen Charakter gebracht hat ;-) Seltsame Spielmechanik, aber auch einer der wenigen Kritikpunkte überhaupt, daher sei dies dem Mario verziehen. Skill-Proben laufen dann als simpler Vergleich zwischen dem eigenen Wert und dem des Gegenübers ab, bei einem Gleichstand oder einem besseren Fähigkeitswert gewinnt man. Zusätzlich gibt es noch einen Suchtwert, der wie auch Empathie gelegentlich zwangsweise einen Abschnitt vorgibt, wenn man einen bestimmten Fähigkeitswert über-/unterschritten hat.
Also im Prinzip verhältnismäßig simple Regeln, die spielmechanisch gut funktionieren. Sie sind da, drängen sich aber nie in den Vordergrund, denn hier steht die Geschichte im Fokus. Und die ist wirklich gut gelungen. Mario schafft es mit seinen atmosphärischen (und mitunter arg blutigen) Texten mühelos, dass vor dem eigenen Auge die Londoner Ghettos des Jahres 1888 auferstehen. Hier gibt es ein dickes Lob von mir! Ob man die Handlung an sich aber gut findet hängt allerdings von der eigenen Erwartungshaltung ab. Als mir der „Mantikore Verlag“ dankenswerterweise das Rezensionsexemplar zusandte, habe ich mich ohne Vorwissen auf Mörderjagd begeben. Und so, wie ich die Einleitung und mindestens die erste Hälfte des Buches „verstanden“ habe, ging ich von einem richtigen „Wer ist der Mörder?“-Krimi aus. Doch die Geschichte kippt irgendwann in phantastische Gefilde (u.a. tritt zeitgenössische Fantasy-Prominenz wie Dr. Jekyll & Mr. Hyde, Frankenstein und Dorian Gray auf), die mit reichlich Action endet. Das fand ich aufgrund meiner „falschen“ Erwartungshaltung etwas schade, aber am Ende kommt es ja doch nur darauf ob, ob ich Spaß hatte. Und ich hatte Spaß! Und zwar, ich hab extra nochmal meine Spielbuch-Rezensionen durchgeschaut, so viel Spaß wie seit über vier Jahren nicht mehr!
Fazit: „1888: Wer ist Jack the Ripper?“ (Link) ist zwar letztendlich kein Krimi, sondern Fantasy-Gruselaction, die dafür aber mit viel Atmosphäre und Spannung glänzt. Absolut empfehlenswert!