Es kommt – zumindest in den literarischen Gefilden, in denen ich mich so befinde – gar nicht mal so häufig vor, dass Comics einen eigenen Wikipedia-Artikel erhalten. Dadurch, dass diese Kooperation zwischen den beiden Genre-Größen Hugo Pratt und Milo Manara jedoch sogar preisgekrönt ist, fällt so eine Wikipedia-Würdigung dann aber doch verständlich aus. Auch wenn es deutlich sinnvollere Dinge gäbe, über die man einen Wikipedia-Artikel schreiben könnte, aber diese Macho-Egoscheiße der dortigen Wissenswächter ist ja allgemein bekannt... Egal, es soll ja nun um den Comic gehen, der schon mehrfach auf deutsch veröffentlicht wurde. Nun also vom „Splitter Verlag“ (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte), der hier ein 176 Seiten starkes Prachtwerk veröffentlicht, welches sogar erneut mit einem Sammel-Kunstdruck versehen wurde. Aber auch wenn die Aufmachung sehr hochwertig ist und die Zeichnungen sogar mir als Manara-Skeptiker gefallen, stellt sich halt doch die Frage, ob all die Lobeshymnen denn gerechtfertigt sind?
 

Bild

Massachusetts im frühen 17. Jahrhundert: Shevah, eine junge Siedlerin, wird von zwei Indigenen vergewaltigt. Der zu einer ausgestoßenen Familie gehörende Abner beobachtet zufällig die Tat, dann nimmt er an den Tätern blutige Rache und das Opfer mit nach Hause. Was die ganze Situation eskalieren lässt, denn die Dorfoberen der nahegelegenen Siedlung New-Caanan (besonders Shevahs Onkel, der örtliche Puritaner-Pfaffe) misstrauen Abners Familie, während zugleich die Indigenen nach Rache für ihre getöteten Stammesmitglieder dürsten. Es kommt also, wie es kommen muss: Mord und Totschlag! Und weil wir imer noch bei Pratt & Manara sind, auch noch Nacktheit in ihrer widerlichsten Form...
 

Bild

Im Prinzip ist die Geschichte sehr geradlinig erzählt, ja man kann schon fast das Wort „simpel“ benutzen: Shevah wird gerettet und zum Haus gebracht, das wird dann blutig von den Indigenen belagert, bevor sich die Überlebenden in die befestigte Siedlung zurückziehen, welche dann ebenfalls belagert wird. Und am Ende sind so ziemlich alle tot. Ende... Das ist, wie gerade erwähnt, ziemlich simpel, wird aber durch mitunter skurrile Figuren und die Enthüllung jahr(zehnt)elang gehüteter Geheimnisse aufgeblasen. Wobei es sich im Prinzip vor allem darum dreht, wer wann warum mit wem Sex hatte, vor allem ohne Konsens und auch sehr gerne mal innerhalb der Familie. Und ja, ich verstehe schon, dass hier eine gewisse Sozialkritik mitschwingt, denn die streng religiösen Puritaner sind am Ende genauso sexbesessen wie die indigenen „Wilden“, nur dass diese der Gesellschaft nicht ihre Moral aufzwingen. Aber mal ehrlich, taugt eine Inzestfamilie wirklich als Protagonisten-Gruppen? Vor allem, weil auch diese eben nicht mehrdimensional charakterisiert werden, sondern sie sich jeweils mit lediglich einem Charakterzug begnügen müssen? 
 

Bild

Und dann fiebert man halt doch mit ihnen mit, weil die brachialen Belagerungskämpfe eine gewisse Faszination ausstrahlen, aber quasi beim Höhepunkt folgt urplötzlich der Abspann mit einer Texttafel, die das weitergehende Schicksal erklärt? Keine Ahnung, warum dieser Comic so gefeiert wird, aber an der Geschichte kann es nicht liegen! Wohl eher an den Zeichnungen, denn die treffen zwar erneut nicht meinen persönlichen Geschmack (ja, früher waren andere Zeiten, und da hat man dann auch gern mal eine Brust mehr ins Bild gedrückt und auch vielleicht mal etwas mehr die Stereotype betont), sind aber in den weitwinkligen Szenen (Massenangriffe, Landschaftsaufnahmen) durchaus sehenswert. Und so will ich diesen Comic nicht so sehr verdammen, wie ich es bei anderen Werken von Milo Manara getan habe (der ja immer dann gut ist, wenn er mal nichts oder wenigstens nur wenig mit sexualisierten Themen arbeitet), aber ein Lob kann ich auch nicht aussprechen. Ich gebe daher ein gemischtes...

Fazit: „Ein indianischer Sommer“ (Link) ist zweifelsohne ein Kind seiner Zeit, und vielleicht war dieser Comic damals sogar bemerkenswert und preisverdächtig, aber nach heutigen Maßstäben ist er lediglich noch für Genre-Fans interessant, die wirklich jedes Werk von Manara & Pratt in der Sammlung haben wollen.

Tags