Orks sind irgendwie komplett missverstandene Wesen, die popkulturell zwischen den bösesten Bösewichten aller Zeiten, grün angemaltem Wikinger-Höhlenmenschen-Mischmasch und (zumindest in ihren „halb“-Varianten) fetischisierten Muskelprotzen verortet werden. Vor allem sind sie aber oft das Antagonisten-Volk und damit die Bedrohung, die es auszumerzen gilt. Aber wie wäre es denn, wenn es mal andersherum wäre? Orks als willkommene Rettung der eigenen Macht, die man selbst wie willenlose Bauern auf einem Schachbrett hin und her schiebt?
Genau darum geht es in „Orkdämmerung“ vom „Pro Indie"-Verlag (der mir dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte), einem spielleitungslosen Erzählrollenspiel für 1 – 8 Spielende, welche in 90 – 120 Minuten über das Schicksal eben jener Orks entscheiden. Dabei verkörpern sie selbst die Weisen eines von einem übermächtigen Feind bedrohten Reiches. Also holen sie rasch mal die Okkult-Magie aus dem Keller und erschaffen die Orks, die nun stellvertretend epische Schlachten schlagen, bevor diese (möglicherweise) bemerken, dass sie ja auch mal für ihre eigenen Interessen kämpfen könnten ;-)
Wie bereits erwähnt ist „Orkdämmerung“ ein spielleitungsloses Erzählrollenspiel mit gerade mal 60 Seiten Umfang. Über acht Spielrunden beziehungsweise Kapitel hinweg wird das Schicksal der Orks reihum erzählt, wobei alle Spielenden sowohl das Schicksal ihrer Heimat als auch die eigenen Interessen in den Vordergrund stellen können. Dabei beginnt man ganz klassisch mit der Erstellung des eigenen Charakters (Name & Motivation) und dann mit der Erschaffung der Orks. Diese werden über die vier Attribute Anzahl, Loyalität, Brutalität & Klugheit dargestellt, wobei sich diese Werte mit jeder geschlagenen Schlacht, aber auch mit den Entscheidungen der Weisen verändern (sind die Orks z.B. freie Wesen oder sind sie an einen Gegenstand oder eine Person gebunden?). Hiernach folgen die verschiedenen Schlachten, welche man regeltechnisch mittels der Kombination zweier Attribute plus 1W6 gegen einen immer schwierigeren Zielwert abhandelt. Dabei darf man im Verlauf der Geschichte jede Attribut-Kombination nur ein einziges Mal benutzen, sodass klassisches Min-Maxing nicht funktioniert. Je nachdem, wie die Schlacht dann endet, kann man dann verschiedene Anpassungen (z.B. Größe ändern oder Orks indoktrinieren) und Veränderungen (Fähigkeiten lernen, wobei das nur narrativ ist, da lediglich die dazugehörige Attributsänderun spielrelevant ist) vornehmen sowie mitunter neue Rituale erfinden.
Das alles ist spielmechanisch in wenigen Sekunden abgehandelt, aber darum geht es eigentlich gar nicht, denn wie in den meisten Erzählrollenspielen gilt „der Weg ist das Ziel“. Man schmückt erzählerisch aus, was da gerade passiert, im Idealfall betrügt man nebenbei noch seine Mitspielenden, sodass am Ende eine epische Geschichte bei rumkommt, auf die selbst Tolkien neidisch wäre ;-) Diese endet dann stets mit einem großen Finale, in welchem die im Spielverlauf hochgelevelten Orks den Aufstand proben und (möglicherweise mit Hilfe der Spielenden?) einer emanzipierten Zukunft entgegenblicken. Wie und wo diese Zukunft stattfindet liegt übrigens völlig in der Hand der Spielgruppe. „Orkdämmerung“ ist komplett neutral im Setting und kann sowohl in einer klischeehaften High-Fantasy-Welt gespielt werden als auch in einer dystopischen Zukunft. Dank dieser Varianz (egal ob selbst ausgedacht oder durch Zufallstabellen ausgewürfelt) sowie einiger Extra-Begegnungen und Optional-Regeln gibt es hier auch eine gewisse Wiederspielbarkeit, selbst wenn der Verlauf der Geschichte prinzipiell vorgegeben ist.
Fazit: Dafür, dass ich zu spielleitungslosen Erzählrollenspielen ja ein ambivalentes Verhältnis habe, hat mich „Orkdämmerung“ (Link) ungemein abgeholt. Ein mit maximal zwei Spielstunden kurzes und knackiges, aber eben auch unglaublich episches Kriegsdrama rund um die klischeehaftesten aller Fantasy-Bösewichte? Das kommt sehr gern irgendwann mal wieder auf den Spieltisch!