Das viktorianische Krimi-Rollenspiel „Private Eye“ ist für mich ja das, was für die meisten anderen Spielenden hierzulande „Ctulhu“ ist, nämlich das perfekte Zweitsystem. Super einfache Regeln, oft sehr spannende Kriminalfälle für 1 – 2 Spieleabende (außer man ist so ein immersiver Stimmungsspieler wie Ralf Sandfuchs, liebe Grüße, dann braucht man deutlich länger), die man auch mal in einer kleineren Gruppe wegsnacken kann, falls man eine Lücke zwischen den epischen D&D- und DSA-Kampagnen hat. Eine schöne Tradition ist dabei, dass die „Redaktion Phantastik“ (die mir dieses Jahr wieder ein Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte) in stetiger Regelmäßigkeit neues Spielmaterial auf den Markt wirft. Im Frühjahr zum GRT ein Schnellstarter-Kurzabenteuer („Die Erbschaft“ (Link) ist und bleibt wohl das beste Krimi-Einstiegsabenteuer aller Zeiten), im Herbst zur SPIEL-Messe einen „richtigen“ Abenteuerband. Die diesmal erschienene Nummer 16 trägt den Namen „Pfade des Verderbens“ und bündelt zwei Klassiker vom „Private Eye“-Miterfinder Jan Christoph Steines, welche vor ewigen Zeiten im Rollenspiel-Magazin „Trodox“ (Link) erschienen. Na schauen wir mal, ob er Zahn der Zeit hier dran genagt hat...
Das erste Abenteuer trägt den Titel „Der Sturm“ und kann auch als 1:1-Abenteuer gespielt werden. Es hat fast schon so ein wenig Cozy-Vibes, denn eigentlich geht es nur um die Abwicklung einer Erbschaft. Denn der Onkel einer der Spielenden ist kürzlich verstorben. Der war ein begeisterter Shakespeare-Experte, aber eben auch ein verschrobener Trunkenbold, sodass das Erbe primär aus einer abgeranzten Hütte besteht. Aber klar, das wäre kein Detektivabenteuer, wenn sich hinter dieser Erbschaft nicht doch ein größeres Geheimnis verbergen würde. Denn es muss ja einen Grund haben, warum irgendjemand die Spielenden aus der Hütte rausekeln will...
Das zweite Abenteuer „Kleine Fische“ bleib ebenso bodenständig, was mir persönlich grundsympathisch ist, weil ich im Laufe der Jahre schon mehr als genug adelige Skandalmordfälle aufgedeckt habe ;-) Der Schoßhund einer Adelsfamilie wurde entführt, und weil der Lord Goodall es gar nicht einsieht, die absurd hohe Lösegeldforderung zu bezahlen, schickt er die Spielenden auf die Suche. Aber, minimaler Spoiler, so schnell kann man gar nicht die Ermittlungen aufnehmen, wie Lady Goodall einknickt und doch der Erpressung nachgibt... Hätte sie mal lieber nicht gemacht, denn offenbar kam der Entführer nun auf den Geschmack: Tage später liegt die Lady mit eingeschlagenem Kopf in ihrem Schlafzimmer, massivst ausgeraubt und erneut ohne Schoßhund. Ein Zufall? Wohl kaum, denn dafür ging der Täter viel zu zielgerichtet vor. Also vielleicht ein Inside-Job? Genau das gilt es herauszufinden, wofür sich die Ermittelnden u.a. in die dunkelsten Ecken von London und sogar darüber hinaus begeben müssen.
„Pfade des Verderbens“ enthält, wie schon vormals erwähnt, zwei wundervoll bodenständige Abenteuer für jeweils vielleicht zwei, höchstens drei Spieleabende. Beide sind sehr linear gestaltet, was absoluten Neulingen vor und hinter dem Spielleiterschirm zugutekommt. Wobei zumindest „Der Sturm“ dann doch etwas tricky ist, weil dieses Abenteuer weniger ein Kriminalfall ist als vielmehr ein Eindringen in den Mikrokosmos einer Dorfgemeinschaft, die entsprechend viele Nichtspielercharaktere enthält. Außerdem hilft es hier sicherlich, wenn man ein gewisses Grundwissen über William Shakespeare mitbringt, was zumindest ich dank meines Sachsen-Anhalt-Dorfabiturs nicht hatte ;-) „Kleine Fische“ ist dagegen rundum klassisch: Spuren werden gesichert (wenn schon kurz zuvor Fingerabdrücke „erfunden“ wurden, dann kann man diese neue Ermittlungstechnik auch exzessiv einsetzen), Zeugen verhört, Verdächtige gejagt sowie zwielichtige Lokalitäten überwacht oder infiltriert. Das ist wirklich ganz genau „Private Eye“, wie es sein sollte, zumindest in meiner Vorstellung :-) Und allein für dieses Abenteuer lohnt sich schon der Kauf, während „Der Sturm“ – obschon es ebenso umfangreich ist – in meinen Augen zu speziell ist, sodass es eher wie eine nette Dreingabe wirkt um zu zeigen, dass das System mehr kann als nur Klischee-Krimis. Aber Hardcore-Stimmungsfreaks wie Ralf oder meine Podcast-Partnerin Elea werden mir hier wohl deutlich widersprechen.
Ansonsten gibt es nicht viel zu berichten, denn die „Pfade des Verderbens“ bieten wieder die altbekannte Qualität der „Redaktion Phantastik“. Ein völlig solides Softcover mit 64 Seiten, vollgestopft mit ordentlich gelayouteten und lektorierten Texten (einige kleine Fehlerchen, da hab ich hier in diesem Text vermutlich mehr drin) sowie einer stimmungsvollen Bildauswahl und einigen netten Karten/Zeichnungen. Also alles wie gehabt, daher gibt es auch wieder mal ein positives...
Fazit: Oldie but goldie – „Private Eye: Pfade des Verderbens“ (Link) mag zwar zwei alte Abenteuer recyclen, das macht diese aber nicht schlechter. „Kleine Fische“ ist nach wie vor einfach großartiges „Private Eye“ in Reinkultur und „Der Sturm“ ist, gerade wenn man 1:1 spielt, eine interessante Erfahrung für literaturaffine Stimmungsfans. Wer also die alten „Trodox“-Ausgaben nicht (mehr) besitzt, kann hier bedenkenlos zugreifen.
