Wenn man von einem Doktor einen Brief bekommt, dann ist das meistens keine schöne Sache. Entweder schickt eine Arztpraxis irgendwelche schlechten Befunde oder irgendeine Anwaltskanzlei hat wieder mal einen Grund zur Abmahnung gefunden ;-) Eine Ausnahme gibt es aber, nämlich wenn der Doktor mit Nachnamen Richter heißt. Denn dann enthält der Brief wieder mal eine spaßige Mini-Konfliktsimulation. Eskalationsdominanz, ein nicht unumstrittener Begriff aus der Konfliktforschung (ein erster Atombomben-Abwurf ist gerade mal Stufe 6 von 10 – WHAT THE FUCK???), geistert in den letzten Monaten wegen des russischen Angriffskrieges immer wieder durch die Medien. Mag uns Putin jetzt schon nicht mehr, weil wir woanders Gas kaufen? Oder mag er uns erst nicht mehr, wenn wir der Ukraine ein paar „Taurus“-Marschflugkörper schenken? Vielleicht hilft es da manchmal, parallele Ereignisse in der Geschichte zu suchen, um daraus zu lernen und die entsprechenden Rückschlüsse für das aktuelle Handeln zu ziehen. Und genau darum geht es ja bei Konfliktsimulationen (neudeutsch CoSim), welche historische Ereignisse zumeist mit einem hohen Detailgrad simulieren. Und ich mag dieses Nischengenre bekanntermaßen ziemlich gern, in meinem Podcast wurde das ja schon mehrmals thematisiert, aber meist wird man hier doch von komplizierten Regeln, mehreren hunderten Pappplättchen und nicht zuletzt einem hohen Preis erschlagen. Und genau hier kommt „Dr. Richter Konfliktsimulationen“ ins Spiel, denn der mit netterweise wieder ein Rezensionsexemplar zusendende Kleinstverlag rund um den Namensgeber (Link zum Interview) bringt immer wieder CoSims für den schmalen Taler auf den Markt, die sowohl klein (denn sie passen in einen C5-Briefumschlag) als auch fein sind. Der vielleicht interessanteste Punkt an „Sleepwalkers“ ist die Tatsache, dass es sich diesmal nicht mehr um ein reines Solospiel handelt. Klar, man kann auch alleine spielen (wie schon in „Kido Butai“ (Link) und „Hindenburg's Hour“ (Link)), aber deutlich spaßiger wird die Sache mit bis zu vier Mitspielenden. Dann kann nämlich jede(r) eine der fünf Nationen übernehmen, die am Vorabend des 1. Weltkriegs nach der Macht greifen. Denn genau darum geht es: Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Russland und Deutschland wollen allesamt die mächtigste Nation des Kontinents werden. Dafür auch mal einen Krieg anzetteln und Millionen in den Tod schicken? Klar, warum nicht? Und so taumeln die bis zu fünf Mitspielenden immer näher an den Abgrund, schließen & brechen Bündnisse, provozieren sich gegenseitig mit Zöllen und Expansionsbestrebungen – Bis die Gesamtlage so verworren ist, dass aus einem lokalen Konflikt zweier Länder plötzlich ein Weltkrieg wird. Spielmechanisch ist das recht einfach gehalten, sodass selbst absolute CoSim-Neulinge bereits nach wenigen Minuten am Spiel der Großmächte beziehungsweise beim Kampf um Prestige teilnehmen können. Denn um dieses Prestige geht es, wer davon am Ende (nach maximal 15 Runden) mehr hat, hat gewonnen. Jede Runde startet mit einem zufälligen Geschichtsereignis, welches zumeist das Prestige und den Startplatz einer Nation beeinflusst. Hiernach geht es reihum, wobei jede Nation eine von fünf Aktionen durchführen darf:
- Protect: 1W6-Probe, je nach Ergebnis 1 mehr oder weniger Prestige - Ally: Man bittet eine andere Großmacht um ein Bündnis, wobei es historische Einschränkungen gibt. Deutschland und Frankreich beispielsweise wollen partout nichts miteinander zu tun haben. - Pass: Man hält sich raus und macht mal nichts. - Arm: Jetzt wird aufgerüstet! Das bringt einen Prestigepunkt, aber kann zu einem Ultimatum des Gegners führen - Expand: Das sorgt für richtig Stress, denn während man einen Prestigepunkt bekommt, verliert der bedrohte Gegner einen Prestigepunkt. Auch das führt zu einem Ultimatum.
Und die oben genannten Ultimaten werden dann in mehreren Schritten (u.a. mehrere Verhandlungsrunden, Interventionen ausländischer Mächte, Truppenmobilisierungen) abgehandelt. Im Idealfall geht alles gut, man bekommt sogar noch etwas Prestige, im schlimmsten Fall gibt es am Ende einen Weltkrieg. Auch dieser wird dann in mehreren Schritten abgehandelt, bevor irgendwann der oder die siegreichen SpielerInnen feststehen. Das kann nach einem Weltkrieg der Fall sein, den man mit entsprechenden Bündnissen schon früh im Spiel auslösen kann, oder wenn (frühstens nach 7, spätestens nach 15 Runden) das „Game over!“-Event zu Rundenbeginn gezogen wird. Und dann sind, je nach Spielweise und Erfahrungsgrad der Mitspielenden, 1 – 4 Stunden ins Land gezogen. Kürzer ist es vor allem dann, wenn man gegen „Bots“ spielt, also gegen fiktive Gegenspieler (z.B. beim Solospiel oder wenn man keine 5 Mitspielenden zusammenbekommt). Für diese zieht man dann einfach zufällig die Aktionsmarker, was spielmechanisch gut funktioniert, aber zu mitunter „interessanten“ Spielverläufen führt. Beim Testspiel mit Menschen ging etwa alles seinen historischen Gang, die Mittelmächte verloren gegen die Entente, quasi das Geschichtsbuch einmal nachgespielt ;-) Beim Solospiel gegen vier „Bots“ dagegen lag Russland am Ende uneinholbar vorn, während eine französisch-österreichisch-ungarische Koalition (auch dank mieser Würfelergebnisse) immer wieder erfolglos gegen Großbritannien anrannte. Spaßig war das aber allemal! Spielmechanisch ist das alles also ziemlich simpel, und zwar nicht nur für eine CoSim, sondern auch im Vergleich mit „normalen“ Expertenspielen. Nichtsdestotrotz, es funktioniert und macht Spaß, und nur darauf kommt es an ;-) Leider merkt man an der Präsentation, dass hier ein Indie-Kleinstverlag am Werk ist: Das englischsprachige Regelheft besteht nur aus Fließtext, wenn auch in zwei Farben, und der Spielplan in ungefährer Größe DIN-A3 wirkt wie ein erster Prototyp. Damit ist „Sleepwalkers“ selbst für CoSim-Verhältnisse überaus schlicht und zweckmäßig designt. Wirklich nicht glücklich war ich zudem mit der Farbauswahl, schon bei etwas schwächeren Lichtverhältnissen war es schwer die Pappplättchen ihren Nationen zuzuordnen. Nichtsdestotrotz ist die eigentliche Produktionsqualität des Spielmaterials (55 Pappplättchen, 12x16 Zoll Spielplan, 8-seitiges Regelheftchen, alles im Druckverschlussbeutel. Lediglich ein Würfel wird noch zum Spielen benötigt!) völlig in Ordnung. Gerade auch im Hinblick auf den Preis von 15,99 €, der im CoSim-Nischenmarkt als günstig einzuordnen ist. Fazit: Dr. Richter hat mich erneut begeistert! Mit „Sleepwalkers: Imperial Rivalries and the Great War“ (Link) hat er erneut eine Mini-CoSim erschaffen, welche mit wenig Spielmaterial richtig viel Spielspaß bringt! #FreeTaurus