Oh Jemine, wie viele Wochen habe ich mich jetzt schon vor dieser Rezension gedrückt? Denn tatsächlich war es diese Graphic Novel, die ich beim diesmonatigen Rezensionspaket zuallererst verschlungen habe. Und nicht nur das, „Kinkerlitzchen“ war auch einer der Titel, auf welchen ich mich dieses Jahr besonders gefreut habe. Denn die knuffigen, sexpositiven Zeichnungen von Marie Sann (Kinky Karrot, Link) wurden mir schon vielfach in die Instagram-Timeline gespült, zudem habe ich keine Kontaktschwierigkeiten mit queeren oder kinky Comics, solange sie niveauvoll und unterhaltsam sind – Weswegen ich den ersten „Sonnenstein“-Zyklus (Link) noch immer für das Maß aller Dinge halte, während die „Splitternackt“-Erotikreihe des „Splitter Verlags“ (zu dem auch „Kinkerlitzchen“ gehört) in unschöner Regelmäßigkeit verkackt. Ob das auch hier der Fall sein wird?
 

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Die junge, unschuldige Lizzy zieht in den Großstadt-Sündenpfuhl, um ein Studium zu beginnen und zugleich eine zerbrochene Beziehung zu verarbeiten. Die Mitbewohnerin ist prima, ein erster Nebenjob ist rasch gefunden, was soll da schon schiefgehen? Eine ganze Menge! Wobei schiefgehen – wenn man davon absieht, dass Lizzy sich nicht so richtig mit ihrem Studienfach identifizieren kann und sie gefühlt aller zwei Tage wegen Unfähigkeit gefeuert wird – natürlich ein eher unpassender Begriff ist; denn wo sie beim Ernst des Lebens versagt, brilliert sie quasi beim Entdecken der eigenen (zumeist sexuellen) Bedürfnisse. Anfangs schaut sie nur mal schüchtern bei einem feministischen Sex-Shop vorbei, rasch tindert sie sich aber durch alle Geschlechter und vor allem alle Fetische der Großstadt, bis sie schließlich als Assistenz einer Domina und Sex-Influencerin ihre Erfüllung findet.
 

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Das war jetzt natürlich eine arg kurz gegriffene Zusammenfassung der Geschichte, aber tatsächlich hab ich damit – bis auf den obligatorischen Love-Interest – alle relevanten Geschehnisse in dem 96 Seiten dicken Comic zusammengefasst. Diese arg dünne Handlung relativiert sich allerdings dadurch, dass es hier gar nicht primär um das Erzählen eines tiefgründigen Coming-of-Age-Dramas geht, sondern um die Aufklärung unbedarfter Comic-Fans über alle mögliche Arten von Kinks und Lebensentwürfen. „Kinkerlitzchen“ liegt damit überraschend nah an klassischen und mitunter peinlichen Aufklärungsfilmchen aus dem Schulunterricht (oder dem TV-Nachtprogramm), denn die Vermittlung von Lehrinhalten steht deutlich im Vordergrund – Auch auf die Gefahr hin, dass manche Situationen arg gestellt wirken oder aber dass das „Worldbuilding“ inkonsistent und inkonsequent erscheint. Um nur mal zwei Beispiele zu nennen: Durch die Geschichte zieht sich, dass die Zweier- und später Dreier-WG immer ziemlich pleite ist, weshalb es ein überstrapazierter Running-Gag ist, dass Lizzy wegen legendärer Unfähigkeit oft schon am ersten Arbeitstag wieder entlassen wird. Ungeachtet der finanziellen Engpässe hat Lizzy aber scheinbar keinerlei Problem damit, für mehrere tausend Euro den Sex-Shop leer zu kaufen... Und obwohl sie dort ja offensichtlich gut beraten wird, kommt es ihr nicht in den Sinn, dass es vielleicht keine gute Idee ist, beim ersten Analspielzeug-Versuch den Love-Interest mit einem Dildo zu verängstigen, der einfach mal deutlich größer als ihr Unterarm ist... Das ist quasi ein Musterbeispiel dafür, was bei „Kinkerlitzchen“ falsch läuft: Diese Szene wurde einzig mit den Hintergedanken geschrieben, am „praktischen Beispiel“ darzustellen, warum man sich bei solchen Themen ganz genau vorher absprechen sollte (denn Theo, der Love-und-dann-doch-nicht-oder-vielleicht-doch-Love-Interest, ging davon aus, dass Lizzy ein fingergroßes Toy für den ersten Versuch mitbringt) – Und ja, das ist wichtig und richtig, vielen Dank für die Aufklärung. Irgendwie glaubwürdig macht es diese Szene trotzdem nicht, denn ich vermute jetzt einfach mal frech, dass 99 von 100 Menschen schlau genug wären, für einen ersten Versuch – selbst wenn nicht über Maßangaben gesprochen wurde – keinen XXL-Riesendildo zu verwenden, der den Umfang des Halses (!!!) der Protagonistin hat...
 

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Achja, wo wir bei der Hauptfigur sind: Lizzy ist irgendwie unsympathisch. Nicht durchgehend, immerhin ist sie die Protagonistin, aber immer wieder gibt es einzelne Dialogzeilen und bedeutungsvolle Halbsätze, aber auch egoistische Handlungen, welche es mir deutlich erschwert haben, mich für die sexuelle und auch charakterliche Entwicklung dieser jungen Frau zu erwärmen. Vielleicht soll sie damit als Figur ambivalent und realistisch wirken, mag ja sein, denn junge Frauen (und generell alle Geschlechter in allen Altersklassen) sind ja in den seltesten Fällen zu jeder Sekunde des Tages makellos, aber mitunter musste ich beim Lesen doch mit den Augen rollen – Was vielleicht auch wieder daran lag, dass bestimmte Situationen „gestellt“ wirkten, um noch etwas Aufklärungsarbeit oder gar einen Witz unterzubringen. Gerade im Hinblick darauf, dass hier sogar zwei Schreibende am Werk waren, ist so eine ungelenkte Erzählweise mit einer unsympathischen Protagonistin und nur leidlich funktionierenden Witzen mehr als nur tragisch... Immerhin, und das rettet „Kinkerlitzchen“ vor einem totalen Verriss: Die Zeichnungen von Marie Sann sind bis auf wenige Ausnahmen phantastisch (wenn man denn auf diesen „Disney-Charme“ steht) und der aufklärerische Grundgedanke ist sehr sympathisch. Das reicht nicht für ein Lob oder gar eine Kaufempfehlung, aber immerhin für ein wohlwollendes...

Fazit: Im Vergleich zu den anderen „Splitternackt“-Comics hebt sich dieses aufklärerische, feministische, nicht-male-gaze gezeichnete Büchlein durchaus positiv ab. Und als Erstkontakt in die Kink-Thematik ist es für absolute Neulinge sicherlich auch ein hübsch gezeichneter Einstiegspunkt – Immerhin sehr viel besser, als wenn man versucht, sich mit Pornhub-Filmchen weiterzubilden 😜 Als klassischer Unterhaltungscomic versagt „Kinkerlitzchen“ (Link) allerdings komplett, denn die Geschichte wirkt arg gewollt und zu Aufklärungszwecken verbogen, die Witze funktionieren oft nicht und über die Protagonistin verliere ich lieber kein Wort mehr...

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