Es kommt nicht auf die Größe an! Oder etwa doch? ;-) Keine Sorge, hier geht es nicht um doofe Pimmel-Witze, sondern um das Social Media-Phänomen „Freude, schöner Götterfunken“. Denn dieses Kampagnen-Komplettset ist einerseits riesig, vielleicht sogar eine der größten Rollenspiel-Boxen aller Zeiten. Aber andererseits kommt es von einem der kleinsten deutschen Szene-Verlage, denn das „Donnerhaus Studio“ besteht im Kern lediglich aus Torsten & Tobias (Link). Und die beiden Enthusiasten haben bisher gerade mal zwei Produkte rausgehauen (neben „Freude, schöner Götterfunken“ nämlich nur das mit dem PEN&P 2021 ausgezeichnete „Jannasaras Kartentasche“-Set (Link)). Diese allerdings in einer Qualität, die viele der Großverlage qualitativ locker in den Schatten stellt. Also stürzen wir uns mal rein ins gruselige Weltkriegs-Abenteuer :-D „Freude, schöner Götterfunken“ ist eigentlich eine Kampagne, übrigens die erste einer Tetralogie, die aber ihr eigenes Regelsystem gleich mitbringt. Dieses trägt den Namen „Icarus Adventure System“ und ist W10-basiert. Nachdem man beschlossen hat, was man erledigen will, baut man sich zu Beginn der Würfelprobe einen Punkte-Pool (Attribut + Fertigkeit / 2. Attribut + Ausrüstungsboni & Vorteile – Nachteile – Statuseffekte). Eventuell nutzt man dann noch Sonderfähigkeiten oder kauft sich mit den Punkten ein paar Risikowürfel (maximal 5 insgesamt), bevor man dann endlich würfelt und das Ergebnis (verbliebene Pool-Punkte + Wurfergebnisse) mit dem Schwierigkeitsgrad (0 bis 200, wobei bereits 70 übermenschlich ist) vergleicht. Je nach Resultat passieren dann, vergleichbar mit PbtA-Erzählspielen, narrative Ergebnisse wie beispielsweise „Ja, und..“ (+20) oder „Nein, aber...“ (-5). Ein Ergebnis von -16 oder weniger darf man keinesfalls haben, dann muss man Dinge wie etwa Gegenstände oder Gesundheit opfern. Das ist anfangs ein wenig Rechnerei, aber irgendwann kommt man doch auf den Trichter. Und dann ist das plötzlich richtig gut! Die Donnerhäuser wissen genau, was sie spielmechanisch darstellen wollen (nämlich Heldentaten, für die man schmerzhafte Opfer bringen muss), und das funktioniert tatsächlich! Da wirkt es letztlich sogar glaubhaft, wenn 08/15-Fußvolk gegen übernatürliche Mächte besteht :-) Fußvolk? Keine Helden? Genau! Denn in „Freude, schöner Götterfunken“ spielt man einfache Mittelmächte-Soldaten oder Hilfspersonen (z.B. eine Krankenschwester, einen Militär-Rabbiner oder eine Kriegsfotografin). Sozusagen die 2. Wahl, welche an einem fast schon vergessenen Kriegsschauplatz in den Karpaten des Jahres 1917 vor allem darauf hofft, nicht noch in den Materialschlachten im Westen und Süden verheizt zu werden. Die Kampagne bietet 14 vorgefertigte, sehr diverse Figuren. Das mag für Militärgeschichtslaien überraschend sein, ist historisch aber akkurat. Denn, und das merkt man an allen Ecken und Enden, hier waren Autoren mit sehr guter historischer Expertise am Werk. Die sich übrigens nicht davor scheuten, sich trotz ihres eigenen Wissens von einer Wissenschaftlerin beraten zu lassen. Wenn also mal wieder jemand „Woke!!!!111einself“ ruft, weil 1. Weltkrieg auch PoC und Frauen rumlaufen (so wie sich damals eine laute Minderheit über das „Battlefield 1“-Videospiel beschwert hat), dann könnt ihr dem- oder derjenigen (okay, sehr vermutlich demjenigen) einfach diese sehr schwere Box hier um die Ohren hauen ;-) Und die ist so schwer und vor allem groß, weil hier halt echt viel Material drin ist. Da wären natürlich die vier Softcover-Bücher, welche zusammen auf beeindruckende 560 Seiten kommen: Der Storyleitfaden enthält die eigentliche Kampagne, die Spielerfibel enthält die Regeln, das Kompendium enthält Tipps & Tricks für die Spielleitung und der Historienalmanach enthält all das Geschichtswissen für klugscheißende BloggerInnen wie mich :-P Dazu gibt es 16 DIN-A3-Landkarten in altbekannter Donnerhaus-Qualität, Regelspickzettel, NSC- & Charakterbögen, Artefaktkarten & Spieltokens, 5W10 und eine riesige Menge an Spielkarten in 2 verschiedenen Größen. Und das alles qualitativ hochwertig gedruckt in lokaler Öko-Qualität. Das hat aber natürlich seinen Preis, bei 139,90 € im Verlagsshop (Link) muss man in den heutigen Krisenzeiten doppelt und dreifach überlegen... Vielleicht wird den Lesenden die Entscheidung leichter gemacht, wenn ich noch rasch über die Kampagne schreibe. Die handelt, wie oben erwähnt, von einer Heldentruppe wider Willen, die es sich in den Karpaten halbwegs bequemt gemacht hat, wenn man mal von gelegentlichen Scharmützeln mit der russischen Armee absieht. Die Kampagne beginnt ganz bodenständig mit der „Operation Strudel“ (welche auch als Comic umgesetzt wurde, Link), bei der die Spielenden die Zutaten für einen Apfelstrudel requirieren. Aber das ist nur Schein, denn in Wirklichkeit sollen sie die ominöse Sankt-Georgen-Kapelle suchen, welche irgendwie vom Erdboden verschwunden ist. Und das wäre ja eigentlich schon ohne Krieg nicht ganz so einfach, aber da die Russen sich für einen Gegenschlag rüsten, wird die eigentlich simple Mission zu einem echten Himmelfahrtskommando. Irgendwann wird die Kapelle erobert, aber da fängt die Geschichte erst an: Auf einer Versorgungsmission durchleben die Spielenden allerlei Kriegswirren, bevor sie in einer Burg von russischen Truppen belagert werden. Dort erfahren sie mehr über die mystischen Hintergründe, eh sie sich in der finalen Schlacht in den Katakomben der Kapelle mit allerlei Übernatürlichem herumschlagen müssen... Irgendwie hab ich beim Lesen der 300 Seiten (!!!) dicken Kampagne immer mal wieder an den Filmklassiker „Apocalypse Now“ denken müssen, nur halt im 1. Weltkrieg und mit mystischen Grusel-Elementen. Aber das ist ja nicht die schlechteste Assoziation, würde ich jetzt einfach mal behaupten ;-) Nun habe ich das Privileg, dass mir das „Donnerhaus Studio“ ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Die Preisfrage war für mich also nur ein Gedankenspiel: Würde ich trotzdem so viel Geld ausgeben? Nachdem ich mich durch die Box gekämpft habe und die Kampagne überzeugend war, tendiere ich hier zu einem „Ja!“. Vielleicht aber mit der Einschränkung, dass man dafür schon die optimale Gruppe haben sollte, damit man das beste Preis-Leistungs-Verhältnis herausholen kann. Denn man muss sich einlassen können auf eine recht lineare, dafür aber umso dramatischere Geschichte, welche gleichzeitig durch das erzählerische Regelsystem unvorhergesehene und mitunter chaotische Ereignisse erschafft. Das offizielle und sehr sehenswerte Actual Play (Link) mit den beiden Donnerhaus-Bossen kam dabei auf 18 Spielsitzungen mit jeweils ca. 2 – 4 Stunden Spielzeit, man bekommt also einen guten Spieleabend-Gegenwert für sein Geld. Dabei würde ich behaupten, dass sich die Spielenden selbst mit sehr wenig Erfahrung an die Box wagen können (gerade die Spielkarten und die Landkarten machen das Geschehen sehr greifbar), als Spielleitung sollte man aber schon ein wenig Erfahrung und vor allem aber sehr viel Lese- & Einarbeitungsfreude mitbringen. Ist diese aber vorhanden, stehen viele schöne Spieleabende auf dem Programm :-D Fazit: „Freude, schöner Götterfunken“ (Link) bietet nicht einfach nur eine spannende Grusel-Kampagne und ein interessantes Erzählregelwerk, sondern dieses Kampagnen-Komplettset enthält ein phantastisches und vor allem hochwertig produziertes Rollenspiel-Erlebnis! PS: Tobias & Torsten waren ja schon mehrfach bei uns im Podcast, u.a. auch zu dieser Kampagnen-Box!